Tschaikowskys Glanz
Thomas Sanderling wurde in Nowosibirsk geboren. Von dort bringt er jetzt mit seinem Orchester eine kostbare Klangkultur nach Deutschland – und einen klingenden Essay darüber, dass Russland und Europa zusammengehören.
Wen der Streicherklang des Philharmonischen Orchesters Nowosibirsk unvorbereitet trifft, der wird fast erschrecken vor Glück: ein hell flirrendes Gold, das aber nicht gleißt, sondern Milde und Großzügigkeit verströmt, das also Glanz und Wärme miteinander vereint, wie man das heute in Westeuropa und Amerika kaum noch zu hören bekommt. Dieser Klang ist ein Schatz. Er entsteht dadurch, dass die Musiker schon von ihrer Ausbildung her der gleichen Schule entstammen, was in den durchglobalisierten Orchestern des Westens mit ihren Spielern, die aus vielen Ländern kommen und im einzelnen oft mehrere Lehrerwechsel durchlaufen haben, nicht mehr der Fall ist. Die Streicher aus Nowosibirsk, der drittgrößten Stadt Russlands, sind fast alle durch die gleiche örtliche Schule gegangen wie die berühmten Geiger Vadim Repin und Maxim Vengerov, die beide von dort stammen.
Wenn das Orchester nun spielt, wie jetzt im Wiesbadener Kurhaus unter der Leitung von Thomas Sanderling, dann haben alle Streicher ein Vibrato von einheitlicher Stärke und Schnelligkeit, arbeiten mit gleichem Bogendruck und gleicher Bogengeschwindigkeit, benutzen wahrscheinlich auch innerhalb ihrer Stimmgruppen die gleichen Fingersätze. Das Ergebnis dieser Homogenität, die mehr als Drill ist, sondern ebenso auf Empfindung und Einsicht gründet, ergreift jäh, besonders bei der Streicherserenade von Peter Tschaikowsky, die zu den Paradestücken dieses Orchesters gehört.
Es gibt wenig Musik, die Brillanz und Gelassenheit mit derart imperialer Eleganz vereint, die ebenso einfach scheint, wie sie tiefsinnig ist. Dass eine C-Dur-Serenade mit einem A-Moll-Akkord beginnt, in der Mitte des Eingangsthemas trugschlüssig nach E-Dur kadenziert, die Grundtonart erst im siebten Takt, also ebenso spät wie unregelmäßig früh, nämlich einen Takt vor Schluss der klassischen Periode, befestigt, das alles ist eingängig und raffiniert zugleich, balanciert zwischen Symmetrie und Asymmetrie, zwischen Stabilität und Instabilität. Man muss über diesen Charme und diese Ausgefuchstheit immer wieder staunen. Tschaikowsky hat hier – analog zu den politischen Romanen seines Zeitgenossen Iwan Turgenjew – einen tönenden Essay geschrieben über die Zivilisationsfähigkeit Russlands. Und Thomas Sanderling, der während des Zweiten Weltkriegs und des sowjetischen Exils seiner Eltern in Nowosibirsk geboren wurde, dirigiert auch im Finale bewusst auf die von Tschaikowsky gesetzte Pointe hin: Der russische Volkstanz im letzten und das westliche Sonatinenthema im ersten Satz haben die gleiche Substanz. Dieses Spiel mit motivischen Ableitungen, Spiegelungen, Verkürzungen, Verschiebungen zieht sich durch alle vier Sätze. Doch so viel Wert Sanderling auch auf die Verdeutlichung dieser Bezüge legt, so wenig opfert er Fluss und Geschmeidigkeit der Musik dabei. Raum für klangliche Finessen, etwa den in höchster Höhe und vierfachem Pianissimo verklingenen Schluss der Elegie, über den Brückenton D mit dem Finale verbunden, bleibt trotzdem.
In Tschaikowskys Rokoko-Variationen kann dann der junge weißrussische Cellist Ivan Karizna seine völlig untheatralische, ganz natürliche Virtuosität zeigen: leichthändig im Greifen der aberwitzigen Oktaven in der Coda, immer ruhig und locker in der Bogenführung bei stets gewinnend schönem Ton. Sanderling versetzt derweil in der dritten Variation Andante sostenuto den Orchesterklang über den Kontrabass-Pizzicati ins Schweben.
Bei Tschaikowskys vierter Symphonie gelingt es ihm, Psychologie und Form glücklich gegeneinander auszutarieren. Bei aller Empathie für die hörbaren Obsessionen und Schicksalstraumata der Musik wahrt der Dirigent einen Ton des Erzählens und mit ihm die ästhetische Distanz zum Inhalt der Erzählung. Der Klang der Blechbläser ist bei aller Wucht weit entfernt von der Vulgarität, mit der noch vor wenigen Jahren das Chicago Symphony Orchestra Eindruck zu schinden suchte.
Höchst dramatisch
Junge Pianistin spielte im GVE-Konzert mit russischem Orchester. - 12.11.2019 18:52 Uhr
"Allegro con fuoco", schnell und mit Feuer, so sollte die Ouvertüre zur Oper "Ruslan und Ludmilla" nach Auffassung ihres Komponisten Michael Glinka gespielt werden. Diese furiose Opern-Ouvertüre präsentierte das russische "Novosibirsk Philharmonic Orchestra" souverän unter Leitung seines vor Temperament sprühenden Chefdirigenten Thomas Sanderling zu Beginn eines aufregenden GVE-Konzertabends in der Ladeshalle. Die vom "Vater der russischen Musik" komponierten, der Romeo und Julia-Thematik nachempfundenen Handlungsstränge boten die einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters so bravourös dar, dass dieses instrumentelle Highlight das Publikum begeisterte.
Eines der berühmtesten Klavierkonzerte der Nach-Beethoven-Zeit ist das Konzert in a-Moll von Edvard Grieg, mit dem die erst 16 Jahre alte Laetitia Hahn als Ersatz für den plötzlich erkrankten Nikolai Tokarev ihr pianistisches Debüt in Erlangen gab. Ähnlich wie der von ihm verehrte Robert Schumann, beginnt Griegs opulentes Werk mit einem, von herabstürzenden a-Moll-Dreiklängen geprägten Solo, dem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Orchester folgt.
Bereits hier demonstrierte die vom berühmten Lang Lang geförderte, inzwischen europaweit in vielen Konzertsälen auftretende junge Künstlerin ihre pianistischen Fähigkeiten, als sie den komplexen Klavier-Part virtuos und auch musikalisch in gleicher Weise beeindruckend darbot. Wie nuanciert sie zu spielen versteht, bewies ihre Interpretation des poetischen Mittelsatzes, in dem sie die lyrischen und dramatischen Passagen im Dialog mit dem Orchester pointiert gestaltete. Auch im expressiven Finale zeigte sie, dass sie inzwischen über eine beeindruckende Technik bei der Ausgestaltung dieses bedeutenden, mit folkloristischen Elementen ausgestatteten Werks verfügt.
Symphonisches Meisterwerk
1878, zehn Jahre nach Griegs Klavierkonzert, wurde in Moskau Peter Tschaikowskys vierte Symphonie uraufgeführt. Wunderbar, wie in diesen vier tiefsinnig-aufgewühlten und sehr spannend orchestrierten Sätzen die auf allen Positionen glänzend besetzten "Novosibirsker" dieses symphonische Meisterwerk kraftvoll und subtil zugleich darboten. Grandios präsentierte sich die Bläserfraktion im aufbrausenden ersten und im bombastischen vierten Satz, dazu ein Streicher-Ensemble, das allein und im Duett mit den Bläsern seine musikalische Botschaft einfühlsam – wie in den Pizzicato-Passagen des dritten Satzes –, aber auch höchst dramatisch vermitteln konnte.
Es war vor allem auch der motivierenden, präzisen Leitung von Thomas Sanderling und seinem geradezu ekstatischen Temperament zu verdanken, dass die Präsentation von Tschaikowskys monumentaler Vierten durch dieses vorzügliche Orchester das Publikum faszinierte, wie der Riesenbeifall am Schluss eindrucksvoll dokumentierte.
DIETHARD HENNIG, Erlangener Nachrichten
Heitere Seite zweier Musikdramatiker
Novosibirsk Philharmonic Orchestra beschenkte das Bietigheimer Publikum im Kronenzentrum am Mittwochabend mit zwei Sternstunden sinfonischer Musik.
Das russische Orchester spielte Werke von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky und Ludwig van Beethoven.
Beim Gastkonzert des Philharmonischen Orchesters Novosibirsk am Mittwochabend im Kronensaal standen Werke von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky und Ludwig van Beethoven auf dem Programm – was nicht weiter verwundert, denn russische Orchester spielen besonders gerne Tschaikowsky, ihren musikalischen Nationalheiligen. Und Beethoven, weil wir unmittelbar vor dem Beginn des großen Beethoven-Jahres stehen, in dem die Musikwelt mit unzähligen Konzerten, Neueinspielungen, Veranstaltungen und Symposien den 250. Geburtstag des großen Musikdramatikers feiert.
Tschaikowsky und Beethoven passen auch noch aus anderen Gründen gut zusammen: Beide waren sie große Mozart-Verehrer, und beide hatten sie mit einem schweren Lebensschicksal zu kämpfen. Seelenqualen finden sich in der Lebensgeschichte sowie in den Kompositionen beider, bei Beethoven verursacht durch seine einsetzende Taubheit und unerfüllte Sehnsucht nach Liebe, bei Tschaikowsky durch seine angeborene Schwermut. Doch mit der Streicherserenade C-Dur op. 48 und den „Rokoko-Variationen“für Cello und Orchester von Tschaikowsky und der heroischen 7. Sinfonie A-Dur op. 92 von Beethoven kam eher die heitere Seite der beiden Komponisten zum Vorschein, die es glücklicherweise auch gibt.
Das Novosibirsk Philharmonic Orchestra gehört neben den großen Orchestern aus Moskau und Sankt Petersburg zweifellos zu den besten Klangkörpern Russlands, und mit Thomas Sanderling, einem Altmeister am Dirigentenpult, wurde der Konzertabend zu einem musikalischen Hochamt für die zahlreichen Zuhörer im Kronensaal. Zu Beginn erklang Tschaikowskys großartige Streicherserenade C-Dur, die er 1880 in entspannten Wochen auf dem Gut seiner Schwester geschrieben hat. In ihren vier Sätzen, die voller Poesie und Fantasie sind, lässt sich nichts von Tschaikowskys Tragik erahnen.
Interpretatorisch weiß Sanderling, der seit 2017 Chef des Klangapparates ist, genau was er tut. Das Orchester lotet das gesamte dynamische Spektrum vom lautesten Fortissimo bis hin zum dreifachen Pianissimo aus, arbeitet den zarten Schmelz im hinreißenden zweiten Satz „Valse“und den fast volkstümlichen Charakter im dritten Satz „Élégie“heraus, und trumpft dort auf, wo der Notentext dies nahelegt. Es gelingen ausdrucksstarke Dialoge in den Streicherregistern und ein selten gehörter Reichtum an Klangfarben. Sanderling lässt die Musiker mit viel Vibrato und Leidenschaft spielen. Man spürt, dass das Orchester, in dem auch sehr viele überraschend junge Musiker sitzen, Sanderlings Zeichengebung kennt, zu deuten und umzusetzen weiß. So muss Tschaikowsky klingen.
Raum für Ausnahmesolisten
Tschaikowskys „Rokoko-Variationen“nach einem eigenen Thema im galanten Stil Mozarts spielte der 1992 geborene Cellist Ivan Karizna, der als Wunderkind am Cello und Preisträger großer Wettbewerbe bereits für viel Furore gesorgt hat. Die acht Veränderungen des sanglichen Themas bieten an technischen Schwierigkeiten alles auf, was es auf diesem Instrument zu bewältigen gilt: Doppelgri e, haarsträubende Flageolett-Glissandi in höchster Lage und halsbrecherische Läufe in den schnellen Passagen. Wer so Cello spielen kann wie Karizna, muss auf der Welt nichts mehr fürchten. Das Orchester begleitete wunderbar zurückhaltend und intim und gab dem Ausnahmesolisten gleichzeitig viel Raum und die notwendige rhythmisch-harmonische Stütze. Bravorufe für den jungen Russen, der dem Publikum leider eine Zugabe schuldig blieb.
Nach der Pause dann die große Überraschung: Sanderling und das Novosibirsk Philharmonic Orchestra gaben Beethovens Monolithen in einem durch und durch klassischen Modus. Hier wurde nichts romantisiert, nichts klang verschwommen, flüchtig oder verniedlicht. Im Vordergrund der Darbietung standen vielmehr die formbildende Rhythmik aus Punktierungen und Synkopen und die weiten Bögen, die Beethoven so unvergleichlich komponieren konnte. Stampfend schnell, in einer wilden Jagd und mit einem triumphalen Schluss ging der Konzertabend zu Ende. Eine exzellente Einstimmung auf das große Beethoven-Jahr, das am 16. Dezember beginnt.
Dietmar Bastian, Bietigheimer Zeitung