Fülle und Wohllaut
Dasselbe Werk, dasselbe Orchester, aber ein anderer Solist: Nach dem die von Wladimir Spiwakow geleitete Russische Nationalphil harmonie in der Alten Oper den französischen Pianisten Lucas Debargue begleitet hatte, als er Peter Tschaikowskys Konzert für
Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 interpretierte, nahm gleich darauf im Kurhaus Wiesbaden der erst 16 Jahre alte
Iwan Bessonow vor dem 2003 gegründeten Orchester den Solistenplatz ein.
Während Debargue, immerhin zwölf Jahre älter als der Newcomer aus St. Petersburg, zuletzt wohl an seinen evidenten
spieltechnischen Defiziten gearbeitet hatte, scheint der junge Zwei-Meter Schlaks in dieser Hinsicht schon jetzt keine Grenzen zu kennen. Diese Mühelosigkeit führte dazu, dass er in Tschaikowskys virtuosem Dauerbrenner dichte Akkordketten, schnelle Läufe und
kräftige Fortissimo-Gipfel fast schon lässig, aber dennoch immens präzise auslegen konnte. Die Reife und Versunkenheit, die sich im lang samen Satz angedeutet hatte, setzte er in der langsamen Chopin Mazurka a-Moll op. 17/4 fort, seiner Zugabe im ersten
Wiesbadener Meisterkonzert.
Sosehr Spiwakow in Tschaikowskys Klavierkonzert Druck und Dynamik erhöhte, so originell nahm er dem Abschluss des ersten
Satzes die vordergründige Bravourspitze, indem er nämlich die Lautstärke überraschend zurückzog, den zweiten Satz unmittelbar an schloss und, auf diese Weise Zusammenhang stiftend, den an dieser Stelle sonst unvermeidlichen Zwischenapplaus unterband. Fülle, Wärme und Wohllaut prägten die Tschaikowsky-Standards des Programmrahmens, den „Dornröschen" - Walzer eingangs wie auch die Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64 mit ihren schön organisch genommenen formalen Übergängen in der zweiten Programmhälfte. Origineller wiederum die Zugaben, alle aus Ballettmusiken stammten, aus Alfred Schnittkes „Skizzen", aus Tschaikowskys „Schwanensee" sowie, in Gestalt eines georgischen Tanzes, aus Aram Chatschaturjans „Gayaneh".
Von Axel Zibulski, Frankfurter Allgemeine Zeitung